Antisemitismus
Die Geschichte eines Vorurteils
Antisemitische Stereotype sind kulturell verwurzelt. Sie
finden sich auch heute noch in allen Gesellschaftsschichten und Gruppen,
unabhängig von Bildungsgrad und sozialer Zugehörigkeit. Es ist
allerdings nicht so, dass derjenige, der antisemitische Stereotype
verwendet, zwangsläufig Antisemit sein muss.
Von Andrej Reisin, tagesschau.de
Antisemitismus
ist eines der ältesten und doch aktuellsten Vorurteile gegenüber einer
Gruppe: dem religiös oder ethnisch definierten Kollektiv der Juden. Den
Begriff prägte ab 1879 der Journalist Wilhelm Marr, der sich so vom
christlichen Antijudaismus absetzen und seiner Judenfeindschaft einen
wissenschaftlichen Anstrich geben wollte.
Mit Nazi-Symbolen beschmierter jüdischer Friedhof im Elsass.
Friedhofsschändungen machen einen Großteil antisemitischer Straftaten
aus.
Antisemitische Stereotype sind kulturell tief verwurzelt und
finden sich nach jüngsten Forschungsergebnissen auch heute noch in allen
Gesellschaftsschichten und Gruppen, unabhängig von Bildungsgrad und
sozialer Zugehörigkeit. Es ist allerdings nicht so, dass derjenige, der
antisemitische Stereotype verwendet, auch zwangsläufig Antisemit sein
muss. Bei der Verbreitung antisemitischen Gedankenguts spielt weniger
eine Rolle, ob die handelnden Akteure tatsächlich Antisemiten sind,
sondern ob ihre Äußerungen antisemitische Klischees und Vorurteile
bedienen. Diese werden in die öffentliche Diskussion eingespeist und
damit salonfähig gemacht.
Ein Paradebeispiel dieser Art findet
sich bereits im historischen "Berliner Antisemitismusstreit" von 1879:
Damals veröffentlichte der liberale Geschichtsprofessor Heinrich von
Treitschke einen Artikel, der die Juden angriff und ihnen vorwarf, ihr
Verhalten provoziere den Ausruf "die Juden sind unser Unglück". Obwohl
Treitschke ganz sicher kein gewalttätiger Antisemit war, machten die
Nazis seinen Spruch 50 Jahre später zum Motto ihres Hetzblattes "Der
Stürmer".
Auch in heutigen Debatten kommt es vor, dass jemand mit
antisemitischen Klischees hantiert, ohne sich der Tragweite bewusst zu
sein. Denn der gegenwärtige Antisemitismus kann auf eine
jahrhundertealte Tradition zurückblicken, die vom christlichen
Antijudaismus über den Rassenantisemitismus der Nazis bis hin zu den
heute aktuellen antisemitischen Weltbildern des radikalen Islamismus
reicht.
Christlicher Antijudaismus
Bereits im Neuen
Testament finden sich antijüdische Passagen, die sich aus der Konkurrenz
zwischen der damals jungen jüdischen Sekte der Christen und der
Mehrheit der Juden erklären lassen, die Jesus nicht als Messias
akzeptierten. Der Hauptvorwurf der Christen: Die Juden seien mitschuldig
an Leid und Tod Jesu Christi. Einige dieser antijüdischen Bilder finden
sich auch heute noch im allgemeinen Sprachgebrauch: zum Beispiel wenn
der Jünger Judas als Symbolfigur des Verrats benutzt wird.
Im
Mittelalter bildeten sich auf Basis dieser religiös motivierten
Feindschaft eine Vielzahl von Legenden heraus: So wurden die Juden
beschuldigt, christliche Kinder zu ermorden, um ihr Blut für geheime
Riten zu benutzen. Diese Ritualmordlegende verbreitete sich in ganz
Europa und hat bis in die jüngste Zeit immer wieder zu Gewaltakten gegen
Juden geführt. So wurden 1946 im polnischen Kielce 42 Juden im Zuge
eines Ritualmord-Pogroms erschlagen und erschossen.
Soziale Deklassierung
Hinzu
trat eine sichtbare Ausgrenzung der Juden: Seit dem späten Mittelalter
mussten sie in vielen Städten Kleidung tragen, die sie als Juden
auswies. Auch war ihnen der Zugang zu den christlichen Zünften und damit
zu handwerklichen Berufen verwehrt. Dies führte zu einer
Spezialisierung auf Handel, Gewerbe und Geldverleih, der den Christen
wegen des Zinsverbots nicht möglich war.
Wiewohl die meisten Juden
relativ bescheiden in engen Gettos lebten, brachten es einige als
Geldgeber von Fürsten oder als Kaufleute zu erheblichem Wohlstand, was
sie zur Zielscheibe von Neid und Missgunst machte. Aus dieser Zeit
stammt das Klischeebild des "reichen Schacherjuden", der in Gelddingen
besonders bewandert sei. Noch 1986 verwendete der Bürgermeister des
niederrheinischen Korschenbroichs angesichts der leeren Stadtkasse das
geflügelte Wort, zur Sanierung des Haushalts "müsse man ein paar reiche
Juden erschlagen".
Moderner Antisemitismus
Im Zuge der
Aufklärung wurden die Juden allmählich den Christen rechtlich und sozial
weitgehend gleichgestellt. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren die
Juden in den meisten europäischen Ländern keiner direkten staatlichen
Verfolgung mehr ausgesetzt. Als Gegenbewegung zur erfolgreichen
Judenemanzipation entwickelte sich allerdings der moderne
Antisemitismus, der in seinen verschiedenen Spielarten bis heute
virulent ist.
Dieser verband - im Gegensatz zum Antijudaismus -
verschiedene antisemitische Stereotypen miteinander und baute sie zu
einem geschlossenen Weltbild aus. An der Schwelle zur Moderne entstand
er als Abwehrreaktion auf einen als negativ empfundenen
gesellschaftlichen Umbruch. Viele Menschen waren mit den abstrakten und
für viele undurchschaubaren Prozessen, die mit der Entstehung von
Kapitalismus und bürgerlicher Gesellschaft einhergingen, überfordert.
Rasant entstehende komplexe Gesellschaftsstrukturen weckten das
Bedürfnis nach einfachen Antworten. Für alles Negative wurde eine
einzige geheime Macht verantwortlich gemacht, die im Dunkeln heimlich
die Fäden ziehe: Die Juden.
Ebenfalls im 19. Jahrhundert hielt der
Begriff der "jüdischen Rasse" Einzug in die Literatur. Anknüpfend an
Rassentypologien aus der Tierwelt behaupteten pseudowissenschaftliche
Schriften eine Ungleichheit von "Menschenrassen". Die "arische Rasse"
stand dabei an der Spitze der menschlichen Entwicklung, war jedoch durch
"Rassenmischung" und "Kulturverfall" bedroht. Angeblich tobte ein
Endkampf zwischen Ariern und Juden, der mit dem Sieg der einen und der
Vernichtung der anderen Rasse enden würde. Auf diese Rassetheorien
gründeten die Nazis ihren rassischen Antisemitismus, der auf die
Vernichtung aller Juden zielte und schließlich sechs Millionen Menschen
das Leben kosten sollte.
Antisemitismus nach Auschwitz
Nach
Ende des zweiten Weltkrieges schien der Antisemitismus zunächst
vollkommen diskreditiert zu sein. Vor allem in Deutschland entwickelte
sich im Laufe der Zeit allerdings der so genannte sekundäre
Antisemitismus, der den Juden ihre eigene Verfolgung und
Leidensgeschichte vorwirft. Gespeist vom Bedürfnis, die
nationalsozialistischen Verbrechen zu verdrängen und sich der
Verantwortung zu entledigen, äußert sich diese Form des Antisemitismus
vor allem in Schuldabwehr.
Der Völkermord an den europäischen
Juden wird entweder geleugnet ("Auschwitzlüge"), relativiert ("andere
Länder haben auch Dreck am Stecken") oder es wird ein endgültiger
Schlussstrich unter alle NS-Debatten gefordert. Eigene negative Gefühle
wie Scham werden auf die Juden als Auslöser projiziert. Diese erscheinen
im sekundären Antisemitismus als eine rachsüchtige äußere Instanz, die
die "Moralkeule" oder "Auschwitzkeule" schwingt und die Deutschen nicht
in Ruhe lässt. "Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen",
fasste der Psychoanalytiker Zvi Rex das Leitmotiv des sekundären
Antisemitismus pointiert zusammen.
Das Chamäleon bleibt lebendig
Antisemitische
Einstellungen und Stereotype sind historisch aus vielen
unterschiedlichen und zum Teil widersprüchlichen Gründen entstanden. Die
religiöse Feindschaft des Christentums wurde im Mittelalter um eine
ökonomische Komponente erweitert. Mit dem Aufkommen des Kapitalismus
wurde dieses Vorurteil aktualisiert und mit einer rassistischen
Ideologie aufgeladen. Diese Vorurteile existieren weiter und werden
beständig aktualisiert, gegenwärtig zum Beispiel in den radikalen
Flügeln des politischen Islam. Antisemitismus als Welterklärungsmodell
ist wandelbar wie ein Chamäleon und bleibt daher bis heute ein nicht
überwundenes Ressentiment.
Stand: 19.06.2006 13:17 Uhr