Sonntag, 8. April 2012

Antisemitismus: Die Geschichte eines Vorurteils

Antisemitismus

Die Geschichte eines Vorurteils

Antisemitische Stereotype sind kulturell verwurzelt. Sie finden sich auch heute noch in allen Gesellschaftsschichten und Gruppen, unabhängig von Bildungsgrad und sozialer Zugehörigkeit. Es ist allerdings nicht so, dass derjenige, der antisemitische Stereotype verwendet, zwangsläufig Antisemit sein muss.
Von Andrej Reisin, tagesschau.de
Antisemitismus ist eines der ältesten und doch aktuellsten Vorurteile gegenüber einer Gruppe: dem religiös oder ethnisch definierten Kollektiv der Juden. Den Begriff prägte ab 1879 der Journalist Wilhelm Marr, der sich so vom christlichen Antijudaismus absetzen und seiner Judenfeindschaft einen wissenschaftlichen Anstrich geben wollte.
Friedhofsschändung (Foto: SIPA) Mit Nazi-Symbolen beschmierter jüdischer Friedhof im Elsass. Friedhofsschändungen machen einen Großteil antisemitischer Straftaten aus. Antisemitische Stereotype sind kulturell tief verwurzelt und finden sich nach jüngsten Forschungsergebnissen auch heute noch in allen Gesellschaftsschichten und Gruppen, unabhängig von Bildungsgrad und sozialer Zugehörigkeit. Es ist allerdings nicht so, dass derjenige, der antisemitische Stereotype verwendet, auch zwangsläufig Antisemit sein muss. Bei der Verbreitung antisemitischen Gedankenguts spielt weniger eine Rolle, ob die handelnden Akteure tatsächlich Antisemiten sind, sondern ob ihre Äußerungen antisemitische Klischees und Vorurteile bedienen. Diese werden in die öffentliche Diskussion eingespeist und damit salonfähig gemacht.
Ein Paradebeispiel dieser Art findet sich bereits im historischen "Berliner Antisemitismusstreit" von 1879: Damals veröffentlichte der liberale Geschichtsprofessor Heinrich von Treitschke einen Artikel, der die Juden angriff und ihnen vorwarf, ihr Verhalten provoziere den Ausruf "die Juden sind unser Unglück". Obwohl Treitschke ganz sicher kein gewalttätiger Antisemit war, machten die Nazis seinen Spruch 50 Jahre später zum Motto ihres Hetzblattes "Der Stürmer".
Auch in heutigen Debatten kommt es vor, dass jemand mit antisemitischen Klischees hantiert, ohne sich der Tragweite bewusst zu sein. Denn der gegenwärtige Antisemitismus kann auf eine jahrhundertealte Tradition zurückblicken, die vom christlichen Antijudaismus über den Rassenantisemitismus der Nazis bis hin zu den heute aktuellen antisemitischen Weltbildern des radikalen Islamismus reicht.

Christlicher Antijudaismus

Bereits im Neuen Testament finden sich antijüdische Passagen, die sich aus der Konkurrenz zwischen der damals jungen jüdischen Sekte der Christen und der Mehrheit der Juden erklären lassen, die Jesus nicht als Messias akzeptierten. Der Hauptvorwurf der Christen: Die Juden seien mitschuldig an Leid und Tod Jesu Christi. Einige dieser antijüdischen Bilder finden sich auch heute noch im allgemeinen Sprachgebrauch: zum Beispiel wenn der Jünger Judas als Symbolfigur des Verrats benutzt wird.
Im Mittelalter bildeten sich auf Basis dieser religiös motivierten Feindschaft eine Vielzahl von Legenden heraus: So wurden die Juden beschuldigt, christliche Kinder zu ermorden, um ihr Blut für geheime Riten zu benutzen. Diese Ritualmordlegende verbreitete sich in ganz Europa und hat bis in die jüngste Zeit immer wieder zu Gewaltakten gegen Juden geführt. So wurden 1946 im polnischen Kielce 42 Juden im Zuge eines Ritualmord-Pogroms erschlagen und erschossen.

Soziale Deklassierung

Hinzu trat eine sichtbare Ausgrenzung der Juden: Seit dem späten Mittelalter mussten sie in vielen Städten Kleidung tragen, die sie als Juden auswies. Auch war ihnen der Zugang zu den christlichen Zünften und damit zu handwerklichen Berufen verwehrt. Dies führte zu einer Spezialisierung auf Handel, Gewerbe und Geldverleih, der den Christen wegen des Zinsverbots nicht möglich war.
Wiewohl die meisten Juden relativ bescheiden in engen Gettos lebten, brachten es einige als Geldgeber von Fürsten oder als Kaufleute zu erheblichem Wohlstand, was sie zur Zielscheibe von Neid und Missgunst machte. Aus dieser Zeit stammt das Klischeebild des "reichen Schacherjuden", der in Gelddingen besonders bewandert sei. Noch 1986 verwendete der Bürgermeister des niederrheinischen Korschenbroichs angesichts der leeren Stadtkasse das geflügelte Wort, zur Sanierung des Haushalts "müsse man ein paar reiche Juden erschlagen".

Moderner Antisemitismus

Im Zuge der Aufklärung wurden die Juden allmählich den Christen rechtlich und sozial weitgehend gleichgestellt. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren die Juden in den meisten europäischen Ländern keiner direkten staatlichen Verfolgung mehr ausgesetzt. Als Gegenbewegung zur erfolgreichen Judenemanzipation entwickelte sich allerdings der moderne Antisemitismus, der in seinen verschiedenen Spielarten bis heute virulent ist.
Dieser verband - im Gegensatz zum Antijudaismus - verschiedene antisemitische Stereotypen miteinander und baute sie zu einem geschlossenen Weltbild aus. An der Schwelle zur Moderne entstand er als Abwehrreaktion auf einen als negativ empfundenen gesellschaftlichen Umbruch. Viele Menschen waren mit den abstrakten und für viele undurchschaubaren Prozessen, die mit der Entstehung von Kapitalismus und bürgerlicher Gesellschaft einhergingen, überfordert. Rasant entstehende komplexe Gesellschaftsstrukturen weckten das Bedürfnis nach einfachen Antworten. Für alles Negative wurde eine einzige geheime Macht verantwortlich gemacht, die im Dunkeln heimlich die Fäden ziehe: Die Juden.
Ebenfalls im 19. Jahrhundert hielt der Begriff der "jüdischen Rasse" Einzug in die Literatur. Anknüpfend an Rassentypologien aus der Tierwelt behaupteten pseudowissenschaftliche Schriften eine Ungleichheit von "Menschenrassen". Die "arische Rasse" stand dabei an der Spitze der menschlichen Entwicklung, war jedoch durch "Rassenmischung" und "Kulturverfall" bedroht. Angeblich tobte ein Endkampf zwischen Ariern und Juden, der mit dem Sieg der einen und der Vernichtung der anderen Rasse enden würde. Auf diese Rassetheorien gründeten die Nazis ihren rassischen Antisemitismus, der auf die Vernichtung aller Juden zielte und schließlich sechs Millionen Menschen das Leben kosten sollte.

Antisemitismus nach Auschwitz

Nach Ende des zweiten Weltkrieges schien der Antisemitismus zunächst vollkommen diskreditiert zu sein. Vor allem in Deutschland entwickelte sich im Laufe der Zeit allerdings der so genannte sekundäre Antisemitismus, der den Juden ihre eigene Verfolgung und Leidensgeschichte vorwirft. Gespeist vom Bedürfnis, die nationalsozialistischen Verbrechen zu verdrängen und sich der Verantwortung zu entledigen, äußert sich diese Form des Antisemitismus vor allem in Schuldabwehr.
Der Völkermord an den europäischen Juden wird entweder geleugnet ("Auschwitzlüge"), relativiert ("andere Länder haben auch Dreck am Stecken") oder es wird ein endgültiger Schlussstrich unter alle NS-Debatten gefordert. Eigene negative Gefühle wie Scham werden auf die Juden als Auslöser projiziert. Diese erscheinen im sekundären Antisemitismus als eine rachsüchtige äußere Instanz, die die "Moralkeule" oder "Auschwitzkeule" schwingt und die Deutschen nicht in Ruhe lässt. "Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen", fasste der Psychoanalytiker Zvi Rex das Leitmotiv des sekundären Antisemitismus pointiert zusammen.

Das Chamäleon bleibt lebendig

Antisemitische Einstellungen und Stereotype sind historisch aus vielen unterschiedlichen und zum Teil widersprüchlichen Gründen entstanden. Die religiöse Feindschaft des Christentums wurde im Mittelalter um eine ökonomische Komponente erweitert. Mit dem Aufkommen des Kapitalismus wurde dieses Vorurteil aktualisiert und mit einer rassistischen Ideologie aufgeladen. Diese Vorurteile existieren weiter und werden beständig aktualisiert, gegenwärtig zum Beispiel in den radikalen Flügeln des politischen Islam. Antisemitismus als Welterklärungsmodell ist wandelbar wie ein Chamäleon und bleibt daher bis heute ein nicht überwundenes Ressentiment.
Stand: 19.06.2006 13:17 Uhr