Gefährdete Balance
Wilhelm Hennis' Diagnosen des Parteienstaats
Von Zeit Online - 15. Oktober 1998
14:00 Uhr
Im März 1982 stellte
Richard von Weizsäcker, damals Regierender Bürgermeister von
Berlin,
die besorgte Frage: Wird unsere Parteiendemokratie überleben? Sein
Stuttgarter Vortrag unter diesem Fragezeichen enthielt eine präzise
Beschreibung, wohin der ursprünglich eher beiläufige Satz im
Grundgesetz: "Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des
Volkes mit" geführt hat.
Auch als Weizsäckers Vortrag im Jahr darauf in einem Buch nachzulesen war, blieb in
Bonn
bei den Parteien der Ruck zu einem Diskurs kritischer Selbstprüfung
aus. Erst die Zuspitzung seiner Thesen ein Jahrzehnt später im Gespräch
mit den ZEIT-Redakteuren Gunter Hofmann und Werner A. Perger führte zu
einer Kontroverse, in der es am Ende mehr um die Person des
Bundespräsidenten, kaum um den Parteienstaat der Bonner Prägung und
seine Folgen ging.
Auch der Versuch von Wilhelm Hennis, einem der klügsten wie
demokratisch engagiertesten Wegbegleiter der Bundesrepublik seit ihrer
Entstehung, die durch Weizsäcker angestoßene Debatte voranzubringen,
scheiterte an der Indolenz der Eigentümer des Parteienstaates, sich
selbst in dieser Eigenschaft in Frage zu stellen. So kommt es, daß
Hennis im letzten seiner zehn Aufsätze aus vier Jahrzehnten, die ein
höchst gewichtiges Reclam-Bändchen versammelt, die Balance unseres
Landes gefährdet sieht: "Unter der alles durchdringenden Macht des
Parteienstaates sind wir dabei, Merkmale deutscher Staatlichkeit zu
verspielen, die uns Stärke gaben: Wir waren ein intakter Rechts- und
Beamtenstaat, bei bekannter Schwäche des demokratischen Elements, das
nun so gut wie vollständig vom Parteienstaat absorbiert wird."
Der deutsche "Parteienstaat" des Grundgesetz-Artikels 21, in seiner hypertrophen Entwicklung immer wieder durch
Karlsruhe
legitimiert, steht in der demokratischen Staatenwelt einzigartig da.
Die Tendenz, andere Prinzipien und Institutionen der Verfassung zu
überwuchern, wurde sein Wegweiser und führte damit in einen immer
weiteren Ausbau in "Appropriationswut und Pfründengeist". Bereits 1958
hatte der unvergessene sozialdemokratische Jurist
Adolf Arndt vergeblich gewarnt, daß eine staatliche Finanzierung die Parteien "denaturiert und korrumpiert".
Dem entwickelten Parteienstaat fällt es immer schwerer, die Probleme
des Landes anzupacken, zu lösen. Im Schlußstück "Totenrede des Perikles
auf ein blühendes Land" von 1997 beschreibt Wilhelm Hennis einen
wichtigen Grund für diese Unfähigkeit: "Es ist
Helmut Kohl
gelungen, in 15 Jahren schleichenden Verfassungswandels die doch ganz
vernünftige Ämter- und Regierungs-, das heißt vor allem Initiativordnung
des Grundgesetzes in eine sich völlig verheddernde, von Ämtern auf
Personen umgestellte, radikal parteienstaatliche und personalisierte
Herrschaftsweise zu transformieren."
Im Jahr der Bundestagswahl wagt Wilhelm Hennis, seinen klugen
Diagnosen über die Verfassung unseres Landes in vier Jahrzehnten
voranzustellen: "Es könnte sein, daß auch dem deutschen ,Parteienstaat'
bald die Stunde schlägt. Zu mächtig ist unter dem Druck der modernen
Medien die Versuchung, das amerikanische Vorbild nachzuahmen." Doch
könnte sich auch, worauf Hennis schon 1992 hinweist, die
"Willensbildung" der Wähler gegen die etablierten Parteien wenden - eine
Befürchtung, die durch den Ausgang der Bundestagswahlen allerdings noch
nicht bestätigt wurde.
Wilhelm Hennis: Auf dem Weg in den Parteienstaat Aufsätze aus vier Jahrzehnten; Verlag Philipp Reclam jun.,
Stuttgart 1998; 170 S., 8,- DM