Montag, 10. November 2014

Über die Geschichte der "Tagesschau" - und wie Jens Riewa tatsächlich von seinem Sex mit Schlagersängerin Michelle schwärmte?

TV-NACHRICHTEN

Das deutsche Hochamt

Von Brinkbäumer, Klaus
Als vor 50 Jahren vier Pioniere aus einem Hamburger Bunker die erste "Tagesschau" ins Land funkten, waren vor allem bunte Meldungen gefragt. Heute ist alles politisch, und die Nachrichtenfabrik ARD-aktuell sendet rund um die Uhr. Von Klaus Brinkbäumer
Der Satz, dass früher alles besser war, ist ein schöner Satz, aber gelogen, und wenn es um die "Tagesschau" geht, muss es um die Wahrheit gehen. Die Wahrheit lautet: Die Leute von der "Tagesschau" waren schon früher so.
So exhibitionistisch wie heute Eva Herman, die ihre Scheidungen mit dem Publikum teilt ("Das war der Gatte, den ich hatte"), ebenso den Ärger mit einstigen Kolleginnen ("Susan Stahnke sagt immer die Wahrheit - wenn sie die Nachrichten spricht") und auch ihre Erfahrungen in der Horizontalen. "Wir waren bis weit nach Mitternacht draußen an der Elbe ... Irgendwann lagen wir uns in den Armen", berichtet ihr Lebensabschnittsbegleiter.
Oder so eitel wie heute Jan Hofer. "Ich trage Slips von Armani - schwarze mit Glanz." Das sagt Jan Hofer zu "Bild".
Oder so plump wie Jens Riewa. Der sagt zu "Bild", die Schlagersängerin Michelle sei "eine Granate im Bett", was zum besten Sex seines Lebens geführt habe.
Nein, früher war gar nichts besser, nicht einmal bei der "Tagesschau". Man hat es nur verdrängt. Früher zog Dagmar Berghoff gegen jenen Visagisten vor Gericht, der ihre Lippen korrigiert hatte, und kündigte ihrer Freundin ebendiese Freundschaft, weil die Freundin nicht für Dagmar Berghoff aussagen wollte. Es stand in "Bild".
Früher sang der von Natur aus "schöne Lothar" ("Bild"), Lothar Dombrowski, ein Chanson in der "Zwischenmahlzeit", und die Zuschauerin Else Kriegeskorte aus Essen schrieb, dass "auch eine verwöhnte Frau seinem Charme" erliege. Dombrowskis Kollege Wilhelm "Stotter-Stöck" sagte "Bild": "Der Dombrowski macht mit solchen Mätzchen doch nur das Image der ''Tagesschau'' kaputt." Stotter-Stöck verschwand, da er, der Name sagt es, Probleme mit seinen Texten hatte, erst ins Off und dann in die Frührente.
Manches war sogar gruseliger früher, denn verglichen mit Karl-Heinz Köpcke formuliert Jens Riewa sensibel und zart.
Köpckes Roman "Bei Einbruch der Dämmerung" erschien 1974, und hierher passen leider nur Auszüge: "Beinahe von selbst platzten die Knöpfe auf ... Zwei üppige Brüste machten paradoxerweise Männchen." Und, zwangsläufig: "Er sah die weißen, engen Jeans von den Gazellenbeinen unter seinen Händen abplatzen wie überhitzte Haut von Wurst ... ja, das war ... die orgiastische perfekte Kür, Weltmeisterschaft des Geschlechts auf der Nahtstelle des menschlichen Seins und noch mehr, denn hinter dem Rasseln ihrer beiden Lungen hörte er ein übersinnliches Keuchen, und er erschauderte."
Der heilige Köpcke!
Die Leute von der "Tagesschau" waren also immer schon größenwahnsinnig, nicht alle, aber einige ihrer Stars. Und vermutlich wurden die deshalb größenwahnsinnig, weil es im deutschen Fernsehen nichts gibt, was so groß ist wie die "Tagesschau".
So ernst und so wichtig.
So verlässlich, dass die Eltern der kleinen Anne Will in den siebziger Jahren ihre Wohnzimmeruhr nach dem Gong aus dem Fernsehapparat stellten.
So wahrhaftig, dass Susanne Daubner vor 1989 heimlich einschaltete, weil die "Aktuelle Kamera" die Ostdeutschen nun mal belog.
So amtlich, dass die Welt untergehen könnte; dann würde Susanne Daubner sagen: "Hier ist das Erste Deutsche Fernsehen mit der ''Tagesschau''. Guten Abend, meine Damen und Herren, heute ist die Welt untergegangen."
Es begann am 26. Dezember 1952, und seit 50 Jahren beginnt um acht der deutsche Abend: Vor dem Gong müssen die Teller in der Spülmaschine sein, nach dem Wetter müssen die Kinder ins Bett. So eingebrannt ins Leben des Landes ist die "Tagesschau", dass Abend für Abend zehn Millionen Menschen zugucken und erfahren, dass die Welt schlecht ist und traurig, aber heute so verständlich wie gestern, immer sortiert nämlich in zehn Minuten Film und fünf Minuten Wort, fehlerfrei verlesen vom Blatt.
Es ist Dienstagmorgen, 10.30 Uhr, in Haus 18 auf dem Gelände des Norddeutschen Rundfunks (NDR) in Hamburg-Lokstedt, einem sandsteinfarbenen Rechteck mit einem Innenhof mit Efeu und ein paar Bänken. Um diesen Innenhof herum liegen das Studio und die Schneideräume und das Bildarchiv und die Büros der Chefredaktion und vor allem die drei großen Redaktionsräume, die auf "Tagesschau"-Deutsch Newsrooms eins, zwei und drei heißen und in denen diese bis zu 21 Sendungen pro Tag entstehen, die das Raumschiff ARD-aktuell produziert.
Die "Tagesschau" begann mit vier Leuten. 50 Jahre später ist ARD-aktuell eine Nachrichtenfabrik mit 240 Malochern, die im Schichtdienst "schrubben" (Anne Will). Zehn von denen sitzen jetzt im Konferenzraum im ersten Stock und ordnen den Tag.
"Die Rücktrittsdrohung vom Kanzler", sagt Inlands-Planer Kai Wessel, "das Treffen von Clement und Hundt, die Flutorden." "Eine Ordensflut", scherzt einer. Dann ist Claudia Bartels dran, Planerin Ausland. "Ja, das Ausland", sagt sie, denn das sagt sie immer, und dann: "Jimmy Carter, US-Präsident, ehemaliger, und Erdnuss-Farmer, bekommt den Friedensnobelpreis."
Listen werden gereicht, die "TS-Themen" für die "Tagesschau", die "TT-Themen" für die "Tagesthemen". Es gibt viele Konferenzen und noch viel mehr Listen, und auf den Listen stehen die "NIFs", Nachrichten im Film, und die Namen der Korrespondenten und vor allem die Namen der Sender, die ARD-aktuell heute beliefern.
Man kann nicht behaupten, dass die Nachrichtenfabrik ein schlichtes Gebilde sei, was zum Beispiel daran liegt, dass die Landessender, von denen das Geld stammt, seit Jahrzehnten ihre Feindschaften pflegen. Wer darf heute den Kommentar für die "Tagesthemen" sprechen? Diese Frage reicht, und die Menschen von ARD-aktuell schauen zur Decke. Heikel, das. Eine Vorwitzige hat über die Tische der Planer Wessel und Bartels ein Schild mit der Aufschrift "Beratung" gehängt, und was zum Einwohnermeldeamt fehlt, sind nur die Nummern für die Wartenden.
Das ist die Schwäche von ARD-aktuell. "Handreichungen für den Krisenfall" pappen an einer Säule, denn dass im Krisenfall "ereignis- und nicht sendungsbezogen" zu reagieren sei, müssen die Journalisten der Firma durchaus betonen.
Als Angela Merkel kurz vor 17 Uhr ihre Kanzlerkandidatur zurückzog, war das ZDF live dabei; ARD-aktuell konnte nicht senden, weil niemand im Sendergeflecht die Werbung unterbrechen mochte. Oder der 11. September, was für ein Desaster! Alle sendeten, sogar N-tv, nur im Ersten zogen Elefanten durch die Savanne. "Da kann man jahrelang gut sein, das zählt dann erst mal nicht mehr, wenn man so etwas vermasselt", sagt Anne Will.
Legende ist hier der Tag, an dem Manfred Kanther zurücktrat, leider um kurz vor halb elf - die "Tagesthemen" sendeten ein paar Minuten später einen Kommentar, in dem ARD-Koordinator Hartmann von der Tann ganz und gar gnadenlos Manfred Kanthers Rücktritt forderte. Sie sendeten deshalb, weil niemand den Kommentator erreichen konnte. Für die Entscheidung, den Quatsch zu kippen, hätte es seine Genehmigung gebraucht.
Andererseits, sie arbeiten daran. In Erfurt waren sie die Ersten, und auch als die USA die ersten Bomben über Afghanistan fallen ließen, lagen sie vorn. Sie haben ja eine Revolution herbeigeführt, auch wenn die natürlich "Große Strukturreform" heißen musste. Seit der Revolution arbeiten die Menschen von "Film" und "Wort" und "Planung" nicht mehr gegeneinander, sondern in Teams. Diese Teams sind die Stärke von ARD-aktuell. "Die Stärke liegt in der Leistungsfähigkeit des Apparats", sagt Anne Will, "es ist faszinierend zu sehen, was geschieht, wenn dieses große, schwere Monster einmal in Fahrt kommt."
Es ist 11.30 Uhr, "Tagesthemen"-Konferenz. Will trägt ei-
nen braunen Pulli, lehnt die Knie gegen den Tisch, trinkt Milchkaffee und klagt über gestern. Der Berliner Korrespondent Armin-Paul Hampel habe seinen Beitrag falsch gebaut, na ja, "er kann trotzdem noch mein Freund sein", sagt Will.
Und sonst so? "Die Quote, ach ja: 18 Prozent."
Und was haben wir heute? Schröders Rücktrittsdrohung, Carters Nobelpreis, das sind Selbstgänger. Ein Gespräch mit Wolfgang Clement wäre gut, die Anfrage ist raus. Und Michael Kunzes Broadway-Premiere wird schöne Bilder bringen. "''Titanic'' machen wir nicht, aber jetzt diese Scheiße", sagt der Chef vom Dienst. "Was ist der Broadway schon gegen die Neue Flora in Hamburg", spotten die anderen.
Und dann lassen sie sich wieder auf ihren Planstellen nieder. Neun Fernseher laufen bei Nicole Koenecke, Chefin vom Dienst, dazu die Online-Dienste, und die Zeitungen liegen rum. Koenecke, bekennender "News-Junkie", ernährt sich von Kaffee und Zigaretten und ist seit 15 Jahren dabei; sie darf drinnen rauchen, während die Jungen vor die Tür müssen, wegen des Rauchverbots. "Die Fünf" und "die Acht" bauen sie im Newsroom eins, was "Tagesschau"-Deutsch für die Sendungen um 17 und 20 Uhr ist.
Es ist 15 Uhr, und der Nobelpreis-Film hat Streifen, für die sich die Moderatorin Susanne Holst entschuldigen muss. Um 17 Uhr sagt Susanne Holst "Kackaphonie" und nicht "Kakophonie", aber über so etwas können sie hier ziemlich laut lachen.
"WC-Turnier" hat Dagmar Berghoff mal über ein Tennisturnier gesagt und noch bei den Lottozahlen gekichert.
"Jetzt kann ich meine eigene Schrift nicht mehr lesen", hat Jens Riewa mal gesagt und sehr souverän gelächelt.
"20 000 Briefmarken erhoben sich in die Luft", hat Wilhelm Wieben mal gesagt, als er "Brieftauben" sagen wollte.
Osama Bin Laden habe sich "zu Mord" gemeldet, hat Anne Will mal gesagt.
Nur Susanne Daubner hat sich nicht versprochen, als sie in der Früh um 5.30 Uhr "Guten Morgen" sagte und hinter ihr der Putzmann mit der Baseballmütze mit einem kräftigen "Morgen" zurückgrüßte.
Morgenmagazine gab es nicht, Putzmänner auch nicht, und Frauen am Mikro gab es schon gar nicht, als die "Tagesschau" 1952 auf Sendung ging. "Frauen sind erotische Köder und sexuelle Feger", sagt Horst Jaedicke, 78, "da weiß doch hinterher kein Zuschauer mehr, was eigentlich die Nachricht war."
Jaedicke war dabei, als die erste "Tagesschau" mit dem Müll, den die "Wochenschau" nicht mehr brauchte, in Hamburg-Eppendorf zusammengeschnippelt und dann mit dem Taxi zum Bunker in St. Pauli gefahren wurde, zur Ausstrahlung.
Ach, damals.
Damals kostete jeder Meter "Wochenschau"-Müll zwei Mark und jede Sendung 300. Damals war Jaedicke noch jung und "besoffen von der Aufgabe", und Beiträge aus Berlin waren drei Tage unterwegs, per Post. Damals gab es Sport und Buntes, denn "mit dem Krieg verliert man die Achtung vor der Politik; nur Adenauer ist hin und wieder reingeschwappt", sagt Jaedicke. Es gab damals auch einen Film über sinkende Kaffeepreise, in dem mangels Bildern Redakteur Jaedicke auftrat: In eine mit Sand gefüllte Tasse steckte er nachdenklich einen Löffel, und das illustrierte dann den Luxus starken Kaffees.
Damals stritt die Nation noch darüber, ob der Samstagabend "Sonnabendabend" heißen dürfe. Der Süden siegte.
Von der BBC kam die Idee, dass Nachrichten auch vorgelesen werden können, ohne Filme. Diese Idee klauten die Leute von der "Tagesschau" 1958. Ein Jahr später kam Köpcke. 28 Jahre lang verkündete Karl-Heinz Köpcke, der Buchhalter des Weltgeschehens, seinem Volk, was wichtig war. "Was nicht vorkam, war nicht passiert", sagt Volker Herres, Chefredakteur des NDR, "Köpcke war sachlich, seriös, fast offiziös." Und erst mit der Raschel-Affäre ging es darnieder.
Denn als 1978 die "Tagesthemen" geboren wurden, musste der große Köpcke am Katzentisch hocken und durfte nur ein paar Minuten lang Meldungen vorlesen. Aus Protest habe Köpcke gegähnt und geraschelt, schrieben die Zeitungen, was Wilhelm Wieben noch heute fies findet. "In der Aufregung der ersten Sendung hatte kein Mensch daran gedacht, Karl-Heinz zu sagen, dass er die Sendung ansagen sollte. Es gab keine Raschel-Affäre. Als der Gong kam, sortierte Karl-Heinz ganz einfach noch seine Blätter", sagt Wieben, 67, von Köpcke entdeckter einstiger Sprecher, bei Kaffee und Roth-Händle in seiner Wohnung im Hamburger Norden.
Es gibt heute noch Sprecher und Moderatoren bei ARD-aktuell. Der Unterschied ist, dass Sprecher Meldungen vom Blatt lesen, die von Redakteuren verfasst wurden, während Moderatoren ihre Analysen selber schreiben und dann vom Teleprompter lesen, was so aussieht, als sprächen sie frei. Moderatoren sind cool, Sprecher sind Tradition, und Wilhelm Wieben sagt, das mit dem Teleprompter sei Betrug und das mit dem Blatt wahrhaftig.
Ein Glaubenskrieg ist das, und der ist nicht entschieden; die "Tagesschau" um acht wird gesprochen, die "Tagesthemen" werden moderiert, und nachmittags ist es mal so und mal anders. Sprecher wie Riewa und Herman sind die Stars des Boulevards, weil sie das Hochamt fürs Vaterland halten. Moderatoren wie Ulrich Wickert und Anne Will sind die Stars in den Gängen von ARD-aktuell, weil sie witzig sind und schnell. "Never change a winning team", sagt Volker Herres. ARD eben.
Es ist 18 Uhr, und Anne Will, 36, sitzt an ihrem Schreibtisch. Ernie und Bert flimmern über die Bildschirme, an der Wand hängt eine Aktie von Borussia Dortmund, überall kleben gelbe Zettel. "Kurze Moderation, klare Haltung!" steht auf einem.
Anne Will sagt, sie sei zuerst nicht durch die "Tagesschau" sozialisiert worden, sondern durch "Schweinchen Dick" und "Daktari". Anne Will sagt, sie wollte mal Radioreporterin werden und dort sein, wo etwas passiert, aber dann rief die Chefsekretärin von ARD-aktuell an und hauchte nach einer langen Pause das Wort "Tagesthemen".
"Und nun sitze ich im Studio wie festgeeist, die Füße platt auf dem Boden, und meine Hände sieht man nicht, und alles, was ich mit meinem Körper tun kann, ist, Augenbrauen und Mundwinkel hochzuziehen und mich hin und wieder etwas nach vorn zu lehnen", sagt Anne Will.
Das Schöne daran? "Das Schöne ist, im Informationsparadies zu arbeiten. Die Meinungsführerschaft. Die Themenvielfalt. Ich merke, dass ich immer noch satter im Stoff werde." Anne Will steht auf, öffnet den Kleiderschrank und schaut sich ihre 28 Blazer an. Sie hat noch drei Stunden.
Es ist 19.30 Uhr in der Nachrichtenfabrik in Hamburg-Lokstedt. Langsam gilt es. Im Newsroom eins basteln sie an "der Acht". Die Sprecherin Susanne Daubner liest ihre Texte und streicht die Stellen für die Pausen an. Daubner kommt aus Ost-Berlin, schwamm im Sommer 1989 von Ungarn nach Jugoslawien und durfte 1999 zur "Tagesschau". "Ich hätte nie gewagt, mich hier zu bewerben", sagt sie.
19.40 Uhr. Keiner der Leute hier war heute draußen. Keiner hat irgendetwas recherchiert. Sie suchen Fehler und verwalten die Welt, aber das präzise, und die Welt kommt zu ihnen. Meistens.
"Clement hat abgesagt", sagt einer.
"Wer ist Clement?", fragt ein anderer.
Bert Pflüger, Chef vom Dienst, ist seit 27 Jahren dabei und hat alles erlebt, den Mauerfall mit Hanns-Joachim Friedrichs, Vietnam mit Köpcke, und nun sitzt Pflüger neben dem Kollegen Andreas Werner vor einem Berg aus Bildschirmen und nimmt die Inserts ab, was "Tagesschau"-Deutsch für die einzublendenden Namen und Ortsmarken ist.
Der Fußballtrainer Werner Lorant ist entlassen worden, und wenn jetzt gesendet würde, hieße der Verein "Fenerbance Istambul". 19.42 Uhr. "Ich krieg hier ''n Kollaps", schreit Werner.
19.51 Uhr: "Fenenbance Istanbul", steht auf dem Schirm. 19.52 Uhr: "Fenerbache". "Ich pumpe ja schon wie Olli Kahn", schreit Werner und japst.
19.53 Uhr, endlich: "Fenerbahce." "Alles wendet sich zum Guten", flüstert Werner. Nein, so etwas ist gar nicht lustig: Neulich hatten sie den US-Außenminister Colin Powell zum Verteidigungsminister gemacht, und das merkte vor der Sendung niemand, und darüber konnte nach der Sendung keiner lachen.
Es ist 20 Uhr, "hier ist das Erste Deutsche Fernsehen mit der ''Tagesschau''". Die vier Kameras im Studio sind automatisch, und die Wand hinter Susanne Daubner schimmert lila; all die Inserts und das "Tagesschau"-Blau kommen vom Computer. Der erste Satz einer Nachrichtensprecherin heißt: "In der Kontroverse um eine Wiedereinführung der Vermögensteuer bemüht sich die SPD-Spitze darum, die Wogen zu glätten." Die Themen: SPD, Bündnis für Arbeit, Türkei, Irak, Nobelpreis, Ölpest, Fußball, Eiswein, das Wetter. Eine beinahe perfekte Sendung, nur den Namen Lorant hat Susanne Daubner auf der zweiten Silbe betont.
Es ist 22.30 Uhr, "hier ist das Erste Deutsche Fernsehen mit den ''Tagesthemen''". Anne Will trägt Rosa und Braun. Der erste Satz einer Moderatorin heißt: "Die Standpauken und Machtworte des Bundeskanzlers häufen sich langsam."
Und das war es. Bei der Flurschelte, der Konferenz danach, sind die Menschen von ARDaktuell sehr stolz. Das ZDF, die einzige Konkurrenz, war lausig heute: Die Krankenkassen liefen im "heute journal", ein altes Thema, und sogar die Irak-Bilder waren von vorgestern. Das Monster aber war in Fahrt, denn ARD-aktuell hatte zu Gerhard Schröders Rücktrittsdrohung Sigmar Gabriels Satz vom Land, das vor der Partei komme, dazu einen launigen Kommentar von Thomas Roth, danach die Bilder vom Broadway und vor allem ein eigenes Thema: Aus einer Pressekonferenz von Amnesty International, dem Tag der Menschenrechte, der Türkei und Carters Nobelpreis hat sich das Monster einen Schwerpunkt gebastelt.
Giganten eben, so muss es sein, bis morgen dann.
Zwei Stunden später verkündet das "Nachtmagazin" von ARD-aktuell, Gerhard Schröder habe wohl gar nicht mit Rücktritt gedroht. Aber wer sieht das "Nachtmagazin"?
* Wilhelm Wieben, Karl-Heinz Köpcke, Dagmar Berghoff, Werner Veigel, Jochen Brauner 1978 im Hamburger NDR-Studio.
DER SPIEGEL 51/2002

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