Wer arm ist, hat es bekanntlich schwer. Noch schwerer hat er es, wenn
er unfreiwillig hinter den Gittern einer psychiatrischen Anstalt sitzt
oder wenn er davon bedroht ist. Bedroht ist jeder, doch wer arm ist,
steht bereits mit einem Bein in der Klapsmühle. Darüber kann man jammern
oder wehklagen.
Man kann aber auch vorsorgen, beispielsweise durch eine
Patientenverfügung. Durch diese ist man allerdings nur vor dem Gröbsten geschützt.
Wer auch nur den Verdacht erweckt, “psychisch krank” zu sein und
zudem arm ist, dem wird das Leben schwer gemacht. Die lieben Verwandten,
Sachbearbeiter in Behörden, die Nachbarn, kurz: alle, deren Lebenssinn
darin besteht, ihre Niedertracht auszuleben, haben dann leichtes Spiel.
Doch das muss nicht sein. Wenn Sie die folgenden
Vorsichtsmaßnahmen
ergreifen, werden Sie die Gefahr der sozialen Vernichtung durch
offizielle und inoffizielle psychiatrische Diagnosen deutlich
verringern. Denken Sie immer daran:
Wer sich eine psychiatrische Diagnose anhängen lässt, dessen Menschenrechte tendieren in Richtung Tierschutz.
Die folgende Liste mit Vorsichtsmaßnahmen ist nicht vollständig. Sie
soll nur der Veranschaulichung des Grundgedankens dienen. Diese Idee
müssen Sie flexibel auf Ihre Situation anwenden und ausgestalten. Wer
arm ist, wird gern für dumm verkauft. Lassen Sie sich nicht darauf ein.
Seien Sie schlau und bauen Sie vor.
- Das Grundgesetz sichert jedem Bürger das Recht auf freie Entfaltung
der Persönlichkeit zu. Vergessen Sie das Grundgesetz, wenn Sie arm sind.
Da Sie arm sind, dürfen Sie nicht auf Hilfe hoffen, wenn Sie irgendwo
anecken. Wenn Sie Ihr Recht einklagen wollen, dann sollten Sie sich
zuvor klarmachen, dass Sie vor Gericht schlechte Karten haben. Wer
schlechte Karten hat und dennoch klagt, ist ein Querulant.
- Falls Sie seelische Probleme haben, sprechen Sie um Himmels willen
mit niemandem darüber. Bedenken Sie, dass auch wohlmeinende Menschen zu
Ihren ärgsten Feinden werden können, gerade weil sie es gut meinen. Sie
wissen ja: Das Siegel der Verschwiegenheit garantiert die schnelle
Verbreitung einer Information. Wenn erst einmal hinter Ihrem Rücken das
Gerücht, Sie seien “psychisch krank”, die Runde macht, dann entfaltet es
sich rasch zur schönsten Blüte der Gewissheit. Und schon sind Sie nicht
nur arm, was schlimm genug ist: Dann kann man Sie auch nicht mehr für
voll nehmen.
- Arme Menschen können sich allzu viel Spinnerei nicht leisten. Sie
müssen sich an das Greifbare, an Tatsachen halten. Psychiatrische
Diagnosen beruhen nicht auf Tatsachen, sondern auf dem Anmutungserleben
von Psychiatern, Psychotherapeuten, Hausärzten etc. Machen Sie daher
Ihren Ärzten und sonstigen professionellen Helfern unmissverständlich
klar, dass Sie als armer Mensch nur und ausschließlich an Tatsachen
interessiert seien, also an Sachverhalten, deren Vorliegen mit
objektiven, naturwissenschaftlich erhärteten Methoden nachgewiesen
werden kann. Falls Sie das Gefühl haben, man lege Ihnen dieses Ansinnen
als Wahnidee aus, dann wechseln Sie schnellstmöglich den Arzt bzw.
suchen Sie sich einen anderen Helfer, der mehr Verständnis für ihre Lage
als armer Mensch hat.
- Äußern Sie niemals öffentlich Kritik an Behörden, am Staat, an
unserem Wirtschaftssystem oder an irgendwelchen Missständen in unserer
Gesellschaft. Ein armer Mensch gerät sofort in Verdacht, dass seine
Kritik auf Wahnideen beruhe und dass man sich deswegen nicht der Mühe
unterziehen müsse, inhaltlich auf sie einzugehen. Besonders schlimm ist
es, wenn Sie Ihre Vorwürfe beweisen können. Bedenken Sie, dass Ihnen
Ihre finanzielle Lage eine schnelle Flucht ins Ausland nicht gestattet.
- Falls Sie arbeitslos und auf Stütze angewiesen sind, lassen Sie
nichts unversucht, Arbeit zu finden, selbst dann, wenn Sie nicht die
Spur einer Chance auf dem Arbeitsmarkt haben. Sie müssen in diesem Falle
nicht fürchten, dass man Sie wegen Ihres irrationalen Verhaltens für
verrückt hält. Da es sich um sozial erwünschtes Verhalten handelt, kann
es nicht verrückt sein. Mucken Sie deswegen nicht auf; es ist nun einmal
so, wie es ist.
- Geben Sie klein bei im Streit mit Leuten, die nicht arm sind. Sie
haben im Allgemeinen ohnehin keine Chance. Auch wenn es sich um
schreiende Ungerechtigkeiten handelt, dürfen Sie nicht auf Ihrem Recht
bestehen. Wenn Sie kämpfen, laufen Sie Gefahr, die Fassung zu verlieren.
Dann ist die Psychiatrie nicht weit. Dafür ist sie ja da.
- Äußern Sie niemals esoterische Ideen. Wohlhabende Frauen mit gut
verdienenden Männern können sich beispielsweise esoterische Höhenflüge
erlauben. Sie aber nicht. Sie sind ja arm. Bei Ihnen werden esoterische
Überzeugungen nur zu schnell als Wahnideen aufgefasst. Ähnliches gilt
für alles, was verdächtig nach Verschwörungstheorie riecht. Die
Besserverdienenden beispielsweise gründen Vereine gegen Handystrahlung
und werden von der Presse interviewt. Wenn Sie sich aber von Strahlen
beeinträchtigt fühlen und dies auch äußern, dann werden die Nachbarn
misstrauisch und Sie müssen früher oder später dem Psychiater Rede und
Antwort stehen. Und der versteht keinen Spaß in diesen Dingen.
- Falls ihre seelische Verfassung stabil ist und Sie sich trotz Ihrer
Armut wohl fühlen, dann beglückwünsche ich Sie dazu. Bilden Sie sich
darauf aber ja nichts ein. Nur zu leicht setzen Sie sich dem Verdacht
aus, dass es sich bei Ihrem Wohlbefinden um eine pathologische Euphorie
handeln könnte. Auch wenn Sie sich cool geben und pragmatisch, sind Sie
nicht über jeden Verdacht erhaben. Es könnte durchaus sein, dass Sie
Ihre “psychische Krankheit” nur dissimulieren. Sie brauchen viel
Fingerspitzengefühl, wenn Sie als armer Mensch ungeschoren davonkommen
wollen. Geben Sie sich gegenüber anderen keineswegs so, wie Sie sind. Es
kommt vielmehr darauf an, keinen Verdacht zu erregen. Dies gelingt am
besten, wenn man den Erwartungen des Gegenübers entspricht. Aber auch
hier ist Vorsicht geboten: Wenn Ihr Gegenüber erwartet, Sie müssten als
Armer auch psychisch krank sein, dann müssen Sie ihn angenehm
überraschen. Aber tragen Sie nicht zu dick auf!
- Als Armer sind Sie das Rohmaterial für Hilfsorganisationen aller
Arten. Sie bilden die Geschäftsgrundlage dieser Institutionen. Sie
sollen möglichst viel einbringen bzw. möglichst wenig kosten und dabei
möglichst wenig Arbeit und Ärger machen. Also benehmen Sie sich
anständig. All die wohlmeinenden Menschen, mit denen Sie es in Behörden
oder sonstwo zu tun haben, sitzen schließlich am längeren Hebel. Und den
werden sie auch einsetzen, wenn Sie sich querlegen. Der einfachste Weg,
Sie loszuwerden, wenn Sie sich sperrig zeigen, besteht darin, Sie in
die Psychiatrie abzuschieben, denn dort haben Sie überhaupt nichts mehr
zu melden. Falls Sie solche Neigungen bei den wohlmeinenden Menschen,
die sich selbstlos um Sie kümmern, bemerken sollten, dann verweisen Sie
ostentativ darauf, dass Sie eine rechtsverbindliche Patientenverfügung
ausgefertigt haben, in der Sie jede Art der psychiatrischen Behandlung
ablehnen.
- Das oberste Gebot lautet: Stellen Sie niemals die Psychiatrie in
Frage. Denn wenn die gesellschaftliche Entwicklung so weitergeht wie
bisher, dann ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis die überwiegende
Mehrheit der Armen in irgendeiner Form freiwillig oder zwangsweise
psychiatrisch betreut wird. Sie werden aller Voraussicht nach und trotz
aller Vorsichtsmaßnahmen über kurz oder lang zu den psychiatrischen
Fällen zählen und dann auf das Wohlwollen des entsprechenden Personals
angewiesen sein. Es steht leider zu befürchten, dass dann, wenn
verwirklicht wurde, was ich befürchte, auch eine Patientenverfügung die
Armen nicht mehr zu schützen vermag. Unter diesen Bedingungen ist es
also ratsam, sich mit der Psychiatrie gut zu stellen.
Sie, lieber Leser, werden mich nun vermutlich für einen Schwarzseher,
einen Zyniker oder einen zynischen Schwarzseher halten; es sei denn,
Sie wären arm. Die meisten Armen wissen, dass ich recht habe, weil für
sie die Welt, von der ich spreche, tagtäglicher Alltag ist. Obwohl es so
klang, habe ich meine Ratschläge auch nicht in erster Linie für die
Armen verfasst; dies hieße ja, Eulen nach Athen zu tragen. In der Regel
wissen die Armen, was Sache ist, auch wenn es ihnen mitunter
schwerfällt, die offensichtlichen und notwendigen Konsequenzen aus ihren
Einsichten zu ziehen. Mitunter handeln sie wider besseres Wissen, und
dann erwischt es sie unter Umständen.
Meine Ratschläge schrieb ich daher hauptsächlich für Sie, weil Sie
nicht arm sind, aber wissen sollten, was auf Sie zukommt, wenn der
gesellschaftliche Trend sich fortsetzt und Sie aus der Mittelschicht ins
Prekariat abgestiegen sind. Mir ist bewusst, dass Sie daran gar nicht
denken wollen. Gut, wenn Sie sich selbst nicht in dieser Rolle sehen
möchten, dann widmen Sie Ihre Aufmerksamkeit doch ersatzweise jenen, die
es jetzt schon erwischt hat. Sie sind die
Vorboten der Zukunft.
Da Sie ja, lieber Leser, aufgeschlossen für alles Neue und
zukunftsorientiert sind, werden Sie es vermutlich als
selbstverständliche Pflichtübung auffassen, sich diese Vorboten genauer
anzuschauen. So wird die Welt in Zukunft aussehen: Sie ist
charakterisiert durch eine ständig wachsende Zahl von Menschen, die von
Behörden und sozialen Organisationen gegängelt und psychiatrisch
entmündigt werden. Nur wer zur Elite zählt oder jung, leistungsfähig ist
und gebraucht wird, kann diesem Schicksal dann noch entkommen.