TV-NACHRICHTEN
Das deutsche Hochamt
Von Brinkbäumer, Klaus
Als vor 50 Jahren vier Pioniere aus einem Hamburger Bunker die
erste "Tagesschau" ins Land funkten, waren vor allem bunte
Meldungen gefragt. Heute ist alles politisch, und die
Nachrichtenfabrik ARD-aktuell sendet rund um die Uhr. Von Klaus
Brinkbäumer
Der Satz, dass früher alles besser war, ist ein schöner Satz,
aber gelogen, und wenn es um die "Tagesschau" geht, muss es um die
Wahrheit gehen. Die Wahrheit lautet: Die Leute von der "Tagesschau"
waren schon früher so.
So exhibitionistisch wie heute Eva Herman, die ihre Scheidungen
mit dem Publikum teilt ("Das war der Gatte, den ich hatte"), ebenso
den Ärger mit einstigen Kolleginnen ("Susan Stahnke sagt immer die
Wahrheit - wenn sie die Nachrichten spricht") und auch ihre
Erfahrungen in der Horizontalen. "Wir waren bis weit nach
Mitternacht draußen an der Elbe ... Irgendwann lagen wir uns in den
Armen", berichtet ihr Lebensabschnittsbegleiter.
Oder so eitel wie heute Jan Hofer. "Ich trage Slips von Armani
- schwarze mit Glanz." Das sagt Jan Hofer zu "Bild".
Oder so plump wie Jens Riewa. Der sagt zu "Bild", die
Schlagersängerin Michelle sei "eine Granate im Bett", was zum
besten Sex seines Lebens geführt habe.
Nein, früher war gar nichts besser, nicht einmal bei der
"Tagesschau". Man hat es nur verdrängt. Früher zog Dagmar Berghoff
gegen jenen Visagisten vor Gericht, der ihre Lippen korrigiert
hatte, und kündigte ihrer Freundin ebendiese Freundschaft, weil die
Freundin nicht für Dagmar Berghoff aussagen wollte. Es stand in
"Bild".
Früher sang der von Natur aus "schöne Lothar" ("Bild"), Lothar
Dombrowski, ein Chanson in der "Zwischenmahlzeit", und die
Zuschauerin Else Kriegeskorte aus Essen schrieb, dass "auch eine
verwöhnte Frau seinem Charme" erliege. Dombrowskis Kollege Wilhelm
"Stotter-Stöck" sagte "Bild": "Der Dombrowski macht mit solchen
Mätzchen doch nur das Image der ''Tagesschau'' kaputt." Stotter-Stöck
verschwand, da er, der Name sagt es, Probleme mit seinen Texten
hatte, erst ins Off und dann in die Frührente.
Manches war sogar gruseliger früher, denn verglichen mit
Karl-Heinz Köpcke formuliert Jens Riewa sensibel und zart.
Köpckes Roman "Bei Einbruch der Dämmerung" erschien 1974, und
hierher passen leider nur Auszüge: "Beinahe von selbst platzten die
Knöpfe auf ... Zwei üppige Brüste machten paradoxerweise Männchen."
Und, zwangsläufig: "Er sah die weißen, engen Jeans von den
Gazellenbeinen unter seinen Händen abplatzen wie überhitzte Haut
von Wurst ... ja, das war ... die orgiastische perfekte Kür,
Weltmeisterschaft des Geschlechts auf der Nahtstelle des
menschlichen Seins und noch mehr, denn hinter dem Rasseln ihrer
beiden Lungen hörte er ein übersinnliches Keuchen, und er
erschauderte."
Der heilige Köpcke!
Die Leute von der "Tagesschau" waren also immer schon
größenwahnsinnig, nicht alle, aber einige ihrer Stars. Und
vermutlich wurden die deshalb größenwahnsinnig, weil es im
deutschen Fernsehen nichts gibt, was so groß ist wie die
"Tagesschau".
So ernst und so wichtig.
So verlässlich, dass die Eltern der kleinen Anne Will in den
siebziger Jahren ihre Wohnzimmeruhr nach dem Gong aus dem
Fernsehapparat stellten.
So wahrhaftig, dass Susanne Daubner vor 1989 heimlich
einschaltete, weil die "Aktuelle Kamera" die Ostdeutschen nun mal
belog.
So amtlich, dass die Welt untergehen könnte; dann würde Susanne
Daubner sagen: "Hier ist das Erste Deutsche Fernsehen mit der
''Tagesschau''. Guten Abend, meine Damen und Herren, heute ist die
Welt untergegangen."
Es begann am 26. Dezember 1952, und seit 50 Jahren beginnt um
acht der deutsche Abend: Vor dem Gong müssen die Teller in der
Spülmaschine sein, nach dem Wetter müssen die Kinder ins Bett. So
eingebrannt ins Leben des Landes ist die "Tagesschau", dass Abend
für Abend zehn Millionen Menschen zugucken und erfahren, dass die
Welt schlecht ist und traurig, aber heute so verständlich wie
gestern, immer sortiert nämlich in zehn Minuten Film und fünf
Minuten Wort, fehlerfrei verlesen vom Blatt.
Es ist Dienstagmorgen, 10.30 Uhr, in Haus 18 auf dem Gelände
des Norddeutschen Rundfunks (NDR) in Hamburg-Lokstedt, einem
sandsteinfarbenen Rechteck mit einem Innenhof mit Efeu und ein paar
Bänken. Um diesen Innenhof herum liegen das Studio und die
Schneideräume und das Bildarchiv und die Büros der Chefredaktion
und vor allem die drei großen Redaktionsräume, die auf
"Tagesschau"-Deutsch Newsrooms eins, zwei und drei heißen und in
denen diese bis zu 21 Sendungen pro Tag entstehen, die das
Raumschiff ARD-aktuell produziert.
Die "Tagesschau" begann mit vier Leuten. 50 Jahre später ist
ARD-aktuell eine Nachrichtenfabrik mit 240 Malochern, die im
Schichtdienst "schrubben" (Anne Will). Zehn von denen sitzen jetzt
im Konferenzraum im ersten Stock und ordnen den Tag.
"Die Rücktrittsdrohung vom Kanzler", sagt Inlands-Planer Kai
Wessel, "das Treffen von Clement und Hundt, die Flutorden." "Eine
Ordensflut", scherzt einer. Dann ist Claudia Bartels dran, Planerin
Ausland. "Ja, das Ausland", sagt sie, denn das sagt sie immer, und
dann: "Jimmy Carter, US-Präsident, ehemaliger, und Erdnuss-Farmer,
bekommt den Friedensnobelpreis."
Listen werden gereicht, die "TS-Themen" für die "Tagesschau",
die "TT-Themen" für die "Tagesthemen". Es gibt viele Konferenzen
und noch viel mehr Listen, und auf den Listen stehen die "NIFs",
Nachrichten im Film, und die Namen der Korrespondenten und vor
allem die Namen der Sender, die ARD-aktuell heute beliefern.
Man kann nicht behaupten, dass die Nachrichtenfabrik ein
schlichtes Gebilde sei, was zum Beispiel daran liegt, dass die
Landessender, von denen das Geld stammt, seit Jahrzehnten ihre
Feindschaften pflegen. Wer darf heute den Kommentar für die
"Tagesthemen" sprechen? Diese Frage reicht, und die Menschen von
ARD-aktuell schauen zur Decke. Heikel, das. Eine Vorwitzige hat
über die Tische der Planer Wessel und Bartels ein Schild mit der
Aufschrift "Beratung" gehängt, und was zum Einwohnermeldeamt fehlt,
sind nur die Nummern für die Wartenden.
Das ist die Schwäche von ARD-aktuell. "Handreichungen für den
Krisenfall" pappen an einer Säule, denn dass im Krisenfall
"ereignis- und nicht sendungsbezogen" zu reagieren sei, müssen die
Journalisten der Firma durchaus betonen.
Als Angela Merkel kurz vor 17 Uhr ihre Kanzlerkandidatur
zurückzog, war das ZDF live dabei; ARD-aktuell konnte nicht senden,
weil niemand im Sendergeflecht die Werbung unterbrechen mochte.
Oder der 11. September, was für ein Desaster! Alle sendeten, sogar
N-tv, nur im Ersten zogen Elefanten durch die Savanne. "Da kann man
jahrelang gut sein, das zählt dann erst mal nicht mehr, wenn man so
etwas vermasselt", sagt Anne Will.
Legende ist hier der Tag, an dem Manfred Kanther zurücktrat,
leider um kurz vor halb elf - die "Tagesthemen" sendeten ein paar
Minuten später einen Kommentar, in dem ARD-Koordinator Hartmann von
der Tann ganz und gar gnadenlos Manfred Kanthers Rücktritt
forderte. Sie sendeten deshalb, weil niemand den Kommentator
erreichen konnte. Für die Entscheidung, den Quatsch zu kippen,
hätte es seine Genehmigung gebraucht.
Andererseits, sie arbeiten daran. In Erfurt waren sie die
Ersten, und auch als die USA die ersten Bomben über Afghanistan
fallen ließen, lagen sie vorn. Sie haben ja eine Revolution
herbeigeführt, auch wenn die natürlich "Große Strukturreform"
heißen musste. Seit der Revolution arbeiten die Menschen von "Film"
und "Wort" und "Planung" nicht mehr gegeneinander, sondern in
Teams. Diese Teams sind die Stärke von ARD-aktuell. "Die Stärke
liegt in der Leistungsfähigkeit des Apparats", sagt Anne Will, "es
ist faszinierend zu sehen, was geschieht, wenn dieses große,
schwere Monster einmal in Fahrt kommt."
Es ist 11.30 Uhr, "Tagesthemen"-Konferenz. Will trägt ei-
nen braunen Pulli, lehnt die Knie gegen den Tisch, trinkt
Milchkaffee und klagt über gestern. Der Berliner Korrespondent
Armin-Paul Hampel habe seinen Beitrag falsch gebaut, na ja, "er
kann trotzdem noch mein Freund sein", sagt Will.
Und sonst so? "Die Quote, ach ja: 18 Prozent."
Und was haben wir heute? Schröders Rücktrittsdrohung, Carters
Nobelpreis, das sind Selbstgänger. Ein Gespräch mit Wolfgang
Clement wäre gut, die Anfrage ist raus. Und Michael Kunzes
Broadway-Premiere wird schöne Bilder bringen. "''Titanic'' machen wir
nicht, aber jetzt diese Scheiße", sagt der Chef vom Dienst. "Was
ist der Broadway schon gegen die Neue Flora in Hamburg", spotten
die anderen.
Und dann lassen sie sich wieder auf ihren Planstellen nieder.
Neun Fernseher laufen bei Nicole Koenecke, Chefin vom Dienst, dazu
die Online-Dienste, und die Zeitungen liegen rum. Koenecke,
bekennender "News-Junkie", ernährt sich von Kaffee und Zigaretten
und ist seit 15 Jahren dabei; sie darf drinnen rauchen, während die
Jungen vor die Tür müssen, wegen des Rauchverbots. "Die Fünf" und
"die Acht" bauen sie im Newsroom eins, was "Tagesschau"-Deutsch für
die Sendungen um 17 und 20 Uhr ist.
Es ist 15 Uhr, und der Nobelpreis-Film hat Streifen, für die
sich die Moderatorin Susanne Holst entschuldigen muss. Um 17 Uhr
sagt Susanne Holst "Kackaphonie" und nicht "Kakophonie", aber über
so etwas können sie hier ziemlich laut lachen.
"WC-Turnier" hat Dagmar Berghoff mal über ein Tennisturnier
gesagt und noch bei den Lottozahlen gekichert.
"Jetzt kann ich meine eigene Schrift nicht mehr lesen", hat
Jens Riewa mal gesagt und sehr souverän gelächelt.
"20 000 Briefmarken erhoben sich in die Luft", hat Wilhelm
Wieben mal gesagt, als er "Brieftauben" sagen wollte.
Osama Bin Laden habe sich "zu Mord" gemeldet, hat Anne Will mal
gesagt.
Nur Susanne Daubner hat sich nicht versprochen, als sie in der
Früh um 5.30 Uhr "Guten Morgen" sagte und hinter ihr der Putzmann
mit der Baseballmütze mit einem kräftigen "Morgen" zurückgrüßte.
Morgenmagazine gab es nicht, Putzmänner auch nicht, und Frauen
am Mikro gab es schon gar nicht, als die "Tagesschau" 1952 auf
Sendung ging. "Frauen sind erotische Köder und sexuelle Feger",
sagt Horst Jaedicke, 78, "da weiß doch hinterher kein Zuschauer
mehr, was eigentlich die Nachricht war."
Jaedicke war dabei, als die erste "Tagesschau" mit dem Müll,
den die "Wochenschau" nicht mehr brauchte, in Hamburg-Eppendorf
zusammengeschnippelt und dann mit dem Taxi zum Bunker in St. Pauli
gefahren wurde, zur Ausstrahlung.
Ach, damals.
Damals kostete jeder Meter "Wochenschau"-Müll zwei Mark und
jede Sendung 300. Damals war Jaedicke noch jung und "besoffen von
der Aufgabe", und Beiträge aus Berlin waren drei Tage unterwegs,
per Post. Damals gab es Sport und Buntes, denn "mit dem Krieg
verliert man die Achtung vor der Politik; nur Adenauer ist hin und
wieder reingeschwappt", sagt Jaedicke. Es gab damals auch einen
Film über sinkende Kaffeepreise, in dem mangels Bildern Redakteur
Jaedicke auftrat: In eine mit Sand gefüllte Tasse steckte er
nachdenklich einen Löffel, und das illustrierte dann den Luxus
starken Kaffees.
Damals stritt die Nation noch darüber, ob der Samstagabend
"Sonnabendabend" heißen dürfe. Der Süden siegte.
Von der BBC kam die Idee, dass Nachrichten auch vorgelesen
werden können, ohne Filme. Diese Idee klauten die Leute von der
"Tagesschau" 1958. Ein Jahr später kam Köpcke. 28 Jahre lang
verkündete Karl-Heinz Köpcke, der Buchhalter des Weltgeschehens,
seinem Volk, was wichtig war. "Was nicht vorkam, war nicht
passiert", sagt Volker Herres, Chefredakteur des NDR, "Köpcke war
sachlich, seriös, fast offiziös." Und erst mit der Raschel-Affäre
ging es darnieder.
Denn als 1978 die "Tagesthemen" geboren wurden, musste der
große Köpcke am Katzentisch hocken und durfte nur ein paar Minuten
lang Meldungen vorlesen. Aus Protest habe Köpcke gegähnt und
geraschelt, schrieben die Zeitungen, was Wilhelm Wieben noch heute
fies findet. "In der Aufregung der ersten Sendung hatte kein Mensch
daran gedacht, Karl-Heinz zu sagen, dass er die Sendung ansagen
sollte. Es gab keine Raschel-Affäre. Als der Gong kam, sortierte
Karl-Heinz ganz einfach noch seine Blätter", sagt Wieben, 67, von
Köpcke entdeckter einstiger Sprecher, bei Kaffee und Roth-Händle in
seiner Wohnung im Hamburger Norden.
Es gibt heute noch Sprecher und Moderatoren bei ARD-aktuell.
Der Unterschied ist, dass Sprecher Meldungen vom Blatt lesen, die
von Redakteuren verfasst wurden, während Moderatoren ihre Analysen
selber schreiben und dann vom Teleprompter lesen, was so aussieht,
als sprächen sie frei. Moderatoren sind cool, Sprecher sind
Tradition, und Wilhelm Wieben sagt, das mit dem Teleprompter sei
Betrug und das mit dem Blatt wahrhaftig.
Ein Glaubenskrieg ist das, und der ist nicht entschieden; die
"Tagesschau" um acht wird gesprochen, die "Tagesthemen" werden
moderiert, und nachmittags ist es mal so und mal anders. Sprecher
wie Riewa und Herman sind die Stars des Boulevards, weil sie das
Hochamt fürs Vaterland halten. Moderatoren wie Ulrich Wickert und
Anne Will sind die Stars in den Gängen von ARD-aktuell, weil sie
witzig sind und schnell. "Never change a winning team", sagt Volker
Herres. ARD eben.
Es ist 18 Uhr, und Anne Will, 36, sitzt an ihrem Schreibtisch.
Ernie und Bert flimmern über die Bildschirme, an der Wand hängt
eine Aktie von Borussia Dortmund, überall kleben gelbe Zettel.
"Kurze Moderation, klare Haltung!" steht auf einem.
Anne Will sagt, sie sei zuerst nicht durch die "Tagesschau"
sozialisiert worden, sondern durch "Schweinchen Dick" und
"Daktari". Anne Will sagt, sie wollte mal Radioreporterin werden
und dort sein, wo etwas passiert, aber dann rief die Chefsekretärin
von ARD-aktuell an und hauchte nach einer langen Pause das Wort
"Tagesthemen".
"Und nun sitze ich im Studio wie festgeeist, die Füße platt auf
dem Boden, und meine Hände sieht man nicht, und alles, was ich mit
meinem Körper tun kann, ist, Augenbrauen und Mundwinkel
hochzuziehen und mich hin und wieder etwas nach vorn zu lehnen",
sagt Anne Will.
Das Schöne daran? "Das Schöne ist, im Informationsparadies zu
arbeiten. Die Meinungsführerschaft. Die Themenvielfalt. Ich merke,
dass ich immer noch satter im Stoff werde." Anne Will steht auf,
öffnet den Kleiderschrank und schaut sich ihre 28 Blazer an. Sie
hat noch drei Stunden.
Es ist 19.30 Uhr in der Nachrichtenfabrik in Hamburg-Lokstedt.
Langsam gilt es. Im Newsroom eins basteln sie an "der Acht". Die
Sprecherin Susanne Daubner liest ihre Texte und streicht die
Stellen für die Pausen an. Daubner kommt aus Ost-Berlin, schwamm im
Sommer 1989 von Ungarn nach Jugoslawien und durfte 1999 zur
"Tagesschau". "Ich hätte nie gewagt, mich hier zu bewerben", sagt
sie.
19.40 Uhr. Keiner der Leute hier war heute draußen. Keiner hat
irgendetwas recherchiert. Sie suchen Fehler und verwalten die Welt,
aber das präzise, und die Welt kommt zu ihnen. Meistens.
"Clement hat abgesagt", sagt einer.
"Wer ist Clement?", fragt ein anderer.
Bert Pflüger, Chef vom Dienst, ist seit 27 Jahren dabei und hat
alles erlebt, den Mauerfall mit Hanns-Joachim Friedrichs, Vietnam
mit Köpcke, und nun sitzt Pflüger neben dem Kollegen Andreas Werner
vor einem Berg aus Bildschirmen und nimmt die Inserts ab, was
"Tagesschau"-Deutsch für die einzublendenden Namen und Ortsmarken
ist.
Der Fußballtrainer Werner Lorant ist entlassen worden, und wenn
jetzt gesendet würde, hieße der Verein "Fenerbance Istambul". 19.42
Uhr. "Ich krieg hier ''n Kollaps", schreit Werner.
19.51 Uhr: "Fenenbance Istanbul", steht auf dem Schirm. 19.52
Uhr: "Fenerbache". "Ich pumpe ja schon wie Olli Kahn", schreit
Werner und japst.
19.53 Uhr, endlich: "Fenerbahce." "Alles wendet sich zum
Guten", flüstert Werner. Nein, so etwas ist gar nicht lustig:
Neulich hatten sie den US-Außenminister Colin Powell zum
Verteidigungsminister gemacht, und das merkte vor der Sendung
niemand, und darüber konnte nach der Sendung keiner lachen.
Es ist 20 Uhr, "hier ist das Erste Deutsche Fernsehen mit der
''Tagesschau''". Die vier Kameras im Studio sind automatisch, und die
Wand hinter Susanne Daubner schimmert lila; all die Inserts und das
"Tagesschau"-Blau kommen vom Computer. Der erste Satz einer
Nachrichtensprecherin heißt: "In der Kontroverse um eine
Wiedereinführung der Vermögensteuer bemüht sich die SPD-Spitze
darum, die Wogen zu glätten." Die Themen: SPD, Bündnis für Arbeit,
Türkei, Irak, Nobelpreis, Ölpest, Fußball, Eiswein, das Wetter.
Eine beinahe perfekte Sendung, nur den Namen Lorant hat Susanne
Daubner auf der zweiten Silbe betont.
Es ist 22.30 Uhr, "hier ist das Erste Deutsche Fernsehen mit
den ''Tagesthemen''". Anne Will trägt Rosa und Braun. Der erste Satz
einer Moderatorin heißt: "Die Standpauken und Machtworte des
Bundeskanzlers häufen sich langsam."
Und das war es. Bei der Flurschelte, der Konferenz danach, sind
die Menschen von ARDaktuell sehr stolz. Das ZDF, die einzige
Konkurrenz, war lausig heute: Die Krankenkassen liefen im "heute
journal", ein altes Thema, und sogar die Irak-Bilder waren von
vorgestern. Das Monster aber war in Fahrt, denn ARD-aktuell hatte
zu Gerhard Schröders Rücktrittsdrohung Sigmar Gabriels Satz vom
Land, das vor der Partei komme, dazu einen launigen Kommentar von
Thomas Roth, danach die Bilder vom Broadway und vor allem ein
eigenes Thema: Aus einer Pressekonferenz von Amnesty International,
dem Tag der Menschenrechte, der Türkei und Carters Nobelpreis hat
sich das Monster einen Schwerpunkt gebastelt.
Giganten eben, so muss es sein, bis morgen dann.
Zwei Stunden später verkündet das "Nachtmagazin" von
ARD-aktuell, Gerhard Schröder habe wohl gar nicht mit Rücktritt
gedroht. Aber wer sieht das "Nachtmagazin"?
* Wilhelm Wieben, Karl-Heinz Köpcke, Dagmar Berghoff, Werner
Veigel, Jochen Brauner 1978 im Hamburger NDR-Studio.
DER SPIEGEL 51/2002